Altes Dorfschulhaus Tjeerd Coehoorn, 2018.

Fred und Cécile Zimmermann - Stiftung

Kunst und Kultur im Alten Dorfschulhaus bei der Kirche in Wattenwil



Bruchstücke aus der Geschichte Wattenwils

1925    Pfarrbericht aus Wattenwil

Bei der Kirchenrenovation wird im Knauf des Kirchturms der von Pfarrer Adolf Mezener verfasste Bericht hinterlegt:

❝  Kurzer Bericht über den Stand der Gemeinde Wattenwil anno 1925.

Im Jahr 1923 wurde das Innere der Kirche von Wattenwil mit einem Kostenaufwand von 1 700 Franken gründlich renoviert. Darauf wurde beschlossen, auch den Kirchturm, dessen mit Schindeln gedeckter Helm besonders am unteren Rand schon morsch geworden war, und dessen grosses, früher schwarz angestrichenes Zifferblatt unschön aussah, mit einem neuen, saubern Kleid zu versehen. Diese Arbeit verzögerte sich bis zum Jahr 1925, weil das von der Burgergemeinde Wattenwil aus ihren Wäldern am Gurnigel unentgeltlich zur Verfügung gestellte Holz zuerst herbeigeschafft und zugerüstet werden musste. Die Maurer- und Zimmermannsarbeiten am Turm wurden ausgeführt vom Baugeschäft des Herrn Jakob Künzi, Gemeindepräsident, in Wattenwil und die Dachdeckerarbeit von Salomon Hadorn in Wattenwil. Die Kosten dieser Renovation können hier nicht angegeben werden, weil die Rechnungen des Unternehmers noch nicht vorliegen, sie werden sich auf ungefähr 2 000 Franken belaufen. Der Helm wurde, wie es für eine ländliche, am Fuss der Berge stehende Kirche passend ist, wieder mit Holzschindeln gedeckt und das Zifferblatt der Uhr mit Ausnahme des Zahlenkreises in freundlichen, hellen Farben angestrichen. Eine Fotographie des Baugerüstes liegt mit einigen andern Bildern bei diesem Aktenstück, wir hoffen, dass sie wohlerhalten einem spätern Geschlecht vor die Augen treten werden.

Am 1. Juli 1925 wurde der kupferne Knopf an der Kirchturmspitze von seiner einsamen Höhe heruntergeholt und mit Spannung auf seinen Inhalt untersucht. Es fanden sich nur zwei runde, gut verschlossene Holzhülsen vor, die jede eine Urkunde enthielt, von denen die ältere im Jahre 1692 von Herrn Pfarrer Jakob Rubin und die spätere im Jahre 1733 vom damaligen Pfarrer Samuel Pretelli niedergeschrieben worden sind. Das Papier dieses interessanten und mancherlei lehrreiche Angaben aus einer weit zurückliegenden Zeit enthaltenden Dokumentes ist gut erhalten und die Schrift, besonders des ältern bis in die Zeit der Gründung unserer Kirche vor ungefähr 240 Jahren zurückreichenden Schriftstückes noch sehr leserlich. Wir legen die beiden Urkunden in den gleichen alten Hüllen wieder in den Knopf zurück und fügen ihnen nebst der vorliegenden Schrift zur Belehrung und zum Ergötzen einer zukünftigen Generation, soweit der Raum im Knopf es erlaubt, noch einige weitere Berichte und Drucksachen aus unseren Tagen bei, worüber wir am Schluss ein Verzeichnis aufstellen.

Möchten unsere Nachfahren eines andern Jahrhunderts, wenn ihnen diese Mitteilungen einmal noch unversehrt in die Hände kommen, eine glücklichere und bessere Zeit geniessen, als wir sie jetzt in der Verworrenheit und Zerrüttung der unheilvollen Folgen des schrecklichen Weltkrieges anno 1914-1918 erleben.

Dass seit 1733 bis heute kein neuerer Bericht in den Knopf gelegt worden ist, lässt darauf schliessen, dass der schwer erreichbare Knopf in diesen bald 200 Jahren nicht von seinem Platz weggenommen und auf seinen Inhalt untersucht worden ist. Am Sonntag, 5. Juli 1925, stand die neuvergoldete flache Kugel, die sonst gewohnt ist von ihrer luftigen Höhe aus weit über das Land zu schauen, einmal unten in der Kirche, von Alt und Jung mit Verwunderung angestaunt und der Pfarrer verlas nach der Predigt die in dem Knopf vorgefundenen Schriften meiner ehrwürdigen Vorgänger vor, wobei infolge der altertümlichen Schriftweise und merkwürdigen Ueberlieferungen des Inhaltes die Kirchenbesucher nicht wenig belustigt wurden. Man vernahm dabei: Jede Zeit hat ihre besondern Aufgaben und damit verbundenen Mühen und Sorgen, dabei wechseln sich Freud und Leid wie am Himmel mit Sonnenglanz und Wolkendunkel, aber alles Irdische kommt zum Ziel, die bösen und die guten Tage nehmen ein Ende.

Alles Ding währt seine Zeit
Gottes Lieb in Ewigkeit.

Wattenwil - in alten Chroniken Watinswile geschrieben - gehörte ehedem zur Herrschaft Strättligen und war dort zinspflichtig, nachher kamen die Herrschaften in verschiedene Hände, zuletzt im Jahre 1642 an die Stadt Bern, die durch eine kluge Politik längst darauf Bedacht genommen hatte, ihre Macht auf kirchlichem Gebiet zu erweitern und zu festigen. Schon 1651 wurde vom Rat in Bern bei der Behandlung der sogenannten Kapitelakten, das heisst der kirchlichen Berichte über die einzelnen Gebiete des Kantons, darüber verhandelt, ob Wattenwil, das zur Pfarrei Thurnen gehörte, nicht zu einer eigenen Pfarrei umgeschaffen werden solle, aber erst 8 Jahre später, im Jahre 1659 wurde die Gemeinde, um der in diesem Dorf und der Umgegend überhand nehmenden Täuferschaft entgegen zu wirken, von Thurnen abgetrennt und zu einer selbständigen Pfarrei erhoben, aus dieser Zeit stammt der das Jahr 1659 tragende Taufstein. Im Jahre 1683 wurde das hiesige zu kleine Filialkirchlein, über deren Form und Gestalt nirgends etwas ermittelt werden kann, neu erbaut und wie aus der Urkunde des Pfarrers Rubin hervorgeht, auch der bereits bestehende Turm vergrössert. Der Rat in Bern stiftete darfür 100 Pfund. Der obrigkeitlich genehmigte Bauplan stammt von dem als Werkmeister am Münster zu Bern bekannten Abraham Düntz, der in jener Zeit erweislich nicht weniger als 18 bernische Landkirchen neugebaut oder mehr oder weniger gründlich umgebaut hat und zwar die Neubauten: Bätterkinden 1664, Ringgenberg 1670, Langnau 1673, Gsteig bei Interlaken 1673, Kirchenthurnen 1773, Langenthal 1677, Sigriswil und Kirchdorf 1679, Brienz 1680 und Wattenwil 1683.

Die beiden jetzt in unserm Turm hängenden Glocken tragen die Jahreszahlen 1404 und 1509, ihr Klang ist noch immer rein und hell, so dass es nicht nötig ist, sie durch neue zu ersetzen, doch ist schon seit vielen Jahren in der Bevölkerung der Wunsch rege gewesen, den beiden uralten Glocken eine dritte Schwester an die Seite zu geben, ein zu diesem löblichen Zweck angelegter Glockenfonds enthält gegenwärtig die Summe von 3 873 Franken, worin 2 000 Franken von Witwe Elise Trachsel gestiftet worden sind, zur Erinnerung an ihren im Jahre 1919 verstorbenen Ehemann, der um das Wohl der Gemeinde Wattenwil hochverdiente und in seinem treuen, uneigennützigen Wirken unvergesslichen Notar und langjährigen Gemeindeschreiber Gottfried Trachsel.

Wenn sich noch andere Spender finden, dürften wir in absehbarer Zeit an die Anschaffung einer dritten Glocke denken, vorläufig müssen wir uns noch mit den bisherigen, altvertrauten Tönen begnügen bis einmal ein harmonischer Dreiklang die Gemeindeglieder mit einem verstärkten Glockenruf zum Gottesdienst einladen wird.

Die bisherigen Pfarrer in Wattenwil waren:

 1. Abraham Haberreuter, 1659-1661, als junger Mann hier gestorben.
 2. Daniel Rohr, Candidat, 1661-1686, als Pfarrer nach Wohlen gezogen.
 3. Jacob Rubin, 1686-1730, nach 44 Dienstjahren in Wattenwil vom Amt zurückgetreten und 1731 in Thun gestorben. Die Ehefrau dieses Pfarrers, Anna Juliana Rubin, ist im Jahre 1703 hier gestorben und offenbar in der Kirche begraben worden, wir fanden nämlich vor einigen Jahren bei einer Renovation der Kirche ihre Grabplatte im Boden des Chors und brachten sie dann an der Aussenwand der Kirche an.
 4. Samuel Pretelli, 1730-1755, gewesener Feldprediger im Regiment von Goumoëns in Holland, in Wattenwil gestorben.
 5. Friedrich Bart, 1755-1763, gewesener Spitalprediger in Bern, während der Predigt hier auf der Kanzel gestorben, das alte Chorgerichts-Manual Band II enthält diese Begebenheit ausführlich.
 6. Daniel Rudolf De Losea, 1763-1781, Schweizer Garde-Prediger in Holland, als Pfarrer nach Bürglen bei Biel gezogen.
 7. Niklaus Eggemann, 1781-1809, hier gestorben und begraben.
 8. Gottlieb Jakob Lauterburg, 1809-1821, hier gestorben und begraben.
 9. Johann Ulrich Nötiger, 1821-1828, als Pfarrer nach Kappelen bei Aarberg.
10. Johann Rudolf Hopf, 1828-1835, hier gestorben und begraben.
11. Abraham Samuel Rüfenacht, 1835-1868, hier gestorben und begraben.
12. Werner Glur, 1868-1897, lebt heute noch, 83-jährig, in körperlicher und geistiger Rüstigkeit in Bern und nimmt immer lebhaften Anteil am Wohl und Weh seiner frühern Pfarrgemeinde.
13. Otto Gelpke, 1898-1906, gegenwärtig Pfarrer in Adelboden.
14. Adolf Mezener, geb. 1869, von 1906 bis - Gott weiss wann.

Das jetzige, schön gelegene Pfarrhaus soll der ehemalige Herrschaftssitz der von hier stammenden altpatrizischen Familie von Wattenwyl gewesen sein. Bis vor 100 Jahren sei es noch mit Tor und Fallbrücke versehen gewesen. Das Pfrundgut, zu dem noch ungefähr vier Jucharten (160 Aren) ums Pfarrhaus gelegenes Wiesland und fünf Kuhrechte am Unterwirthnernberg gehören (ein solches Bergrecht wird heute um etwa 1 500 Franken gekauft) gehört dem Staat Bern, der es dem jeweiligen Pfarrer unentgeltlich zur Wohnung anweist. Die Regierung betrachtet aber immer mehr darnach, diese unabträglichen Staatsgebäude mit Beigabe einer Ablösungssumme den Kirchgemeinden abzutreten, auch unsere Gemeinde erhielt ein solches Angebot, das aber vom Kirchgemeinderat mit guten Gründen abgelehnt wurde, weil die Gemeinde und der Pfarrer sich beim bisherigen Zustand wohl befinden und die neue Ordnung dieser Dinge der Kirchgemeinde ungewisse Lasten auferlegen würde.

Die vom Staat ausgerichtete Besoldung der bernischen Pfarrer beträgt seit dem Jahre 1922 in bar 5 400 bis 7 200 Franken, das Maximum wird nach 12 Dienstjahren erreicht, dazu kommt die freie Amtswohnung und eine Holzentschädigung. Nach einer alten Uebereinkunft mit dem Staat Bern liefert die Burgergemeinde Wattenwil dem hiesigen Pfarrer jährlich 10 Klafter, 4 Buchene und 6 Tannene = 30 Ster Spältenholz im Wald anzuschlagen. Da die Kosten der Lebenshaltung seit 1914 d.h. seit dem schrecklichen Weltkrieg sich um 75 % gesteigert, die Besoldungen der Pfarrer aber mit dieser Verteuerung nicht Schritt gehalten haben, gewährt die Kirchgemeinde Wattenwil dem hiesigen Pfarrer gegenwärtig einen Gemeindezuschuss von jährlich Fr. 200. Die Preise der hauptsächlichsten Lebensmittel sind in hier beiliegenden Schriften und Zeitungen zu lesen.

Die Namen der 9 Kirchgemeinderäte im Jahre 1925 sind:

Präsident: Daniel Segessemann, Landwirt auf der Zelg zu Wattenwil
Kirchmeier (Kassier): Johann Krebs, Landwirt im Hof
Sekretär (Schreiber):Pfarrer Adolf Mezener
Mitglieder: Christen Hadorn, Landwirt auf der Breiten zu Forst
Johann Hadorn, Landwirt im Fischacker zu Forst
Friedrich Krebs, Landwirt im Grebi zu Wattenwil
Ernst Luder, Sekundarlehrer in Wattenwil
Johann Nussbaum, Landwirt in der Ey Wattenwil
Friedrich Zimmermann, Gärtnermeister in Wattenwil

Für die bürgerlichen Angelegenheiten unserer Gemeinde sorgt der Gemeinderat, dem gegenwärtig folgende Mitglieder angehören:

Gemeindepräsident: Jakob Künzi, Baumeister, Unterdorf
Vicepräsident: Friedrich Krebs, Landwirt im Grebi
Gemeindeschreiber: Hans Eichinger, Notar in Wattenwil
Mitglieder: Jakob Bähler, Maurer und Landwirt in Wattenwil
Johann Bähler, Wirt zum Tell und Landwirt
Wilhelm Bettschen, Oberwegmeister in Wattenwil
Dr. med. Ludwig Meyer, Arzt in Wattenwil, beir Kirche
Johann Nussbaum, Landwirt in der Ey zu Wattenwil
Simon Trachsel, Landwirt an der Mettlengasse

Das Amt des Gemeinde- und Schulkassiers versieht Gottfr. Studer, Wagner in Wattenwil.

Die Volkszählung vom Jahr 1920 ergab für die Gemeinde Wattenwil folgende Zahlen:

Bewohnte Häuser: 375
Haushaltungen 465
Wohnbevölkerung 2 169 Personen
davon männlich 1 129
weiblich 1 040
deutsch sprechend 2 162
französisch 7
Protestanten 2 142
Katholiken 22
andere oder keine Konfession 5
Burger der Wohngemeinde 1 323
Bürger anderer Gemeinden 774
Schweizerbürger 2 164
Ausländer 5
Einen Beruf oder Erwerb haben 923  Personen
davon in der Landwirtschaft 370
in Gewerbe und Industrie 401
in Handel und Verkehr 68
übrige 84

Zur Kirchgemeinde Wattenwil gehört seit dem Jahr 1922 die durch Beschluss des Grossen Rates vom 22. September 1921 von der Kirchgemeinde Amsoldingen losgetrennte Einwohnergemeinde Forst im Amt Thun mit 284 Einwohnern; die neuen Kirchenglieder wurden am Neujahrstag 1922 in unserer Kirche festlich begrüsst.

Es ist leicht begreiflich, dass sich die Kirche Amsoldingen vor allem aus finanziellen Gründen gegen die Loslösung von Forst wehrte und von Wattenwil eine angemessene Entschädigung, wegen der es beinahe zu einem richterlichen Handel gekommen wäre, verlangte, doch gelang es dem bern. Synodalrat, den drohenden Zwist gütlich beizulegen und eine Vermittlung zu erzielen, wonach Wattenwil an Amsoldingen eine einmalige Entschädigung von 1 500 Franken zu zahlen hatte.

Ueber das kirchliche Leben in unsern Tagen geben beiliegende Schriften des Synodalrates und das wertvolle Buch von Pfr. Marti den besten Aufschluss. Am Anfang des Weltkrieges im Jahr 1914 füllten sich die Gotteshäuser mit angstvollen Leuten, als dann aber unser Land wie durch ein Wunder vom Weltbrand verschont blieb, liess die fromme Wallung nach und an ihrer Stelle traten die Unheilsmächte der Arbeitsscheu und der Genussucht, unter denen wir heute derart leiden, dass nach und nach unserer Jugend das Gefühl für Fleiss, Sittsamkeit und Gottesfurcht gänzlich abhanden zu kommen droht. Die Kirchen bleiben leer, zum Abendmahl kommt fast niemand mehr, viel liederliche Ehen werden geschlossen und bringen in die Familien Zerrüttung und Kumsal. Wir leben so in einer haltlosen Zeit, wie sie auch früher als bedenkliche Kriegsfolge durchgemacht worden ist. Währenddem Deutschland in den Kriegsjahren im Elend schmachtete und die Menschen an Nahrungsmangel in entsetzliche Not trieb, die tausende dem Hungertod überlieferte, lebten wir trotz der Einschränkung der Lebensmittel durch Rationskarten in Hülle und Fülle, die Landleute verkauften ihre Produkte zu höchsten Preisen, die Arbeiter verdienten in den hauptsächlich für das kriegsführende Ausland vollbeschäftigten Fabriken und Werkstätten einen reichen Lohn, die Kauf- und Geschäftsleute wucherten in abscheulicher Weise, so floss das Geld reichlich durchs Land und übte seien verderblichen Einfluss auf Hohe und Niedere aus. Dann kam der Rückschlag: Arbeitslosigkeit, Verdienstmangel und dabei hohe Lebensmittel-, Wohnungs- und Baupreise, Seuchen und drohende vom Ausland überschlagende revolutionäre Wellen. Die Gier nach leichtem Erwerb und geniesserischem Dasein winkt von oben nach unten, dass einem um die Zukunft bange sein kann. Kein Wunder, dass religiöse Schwärmer, die das Ende der Zeit verkündigen, Zulauf finden, weil manche fromme Seele, durch all das Böse verwirrt, am Halt der Kirche verzweifelt und den sektiererischen Anpreisungen ungesunder Schwarmgeister ins Grau läuft, doch Gott sitzt im Regimente und führet alle wohl, er wird seine schützende Hand auch ferner über uns halten und wohl, er wird sein Reich bauen in Kraft und Herrlichkeit. Freilich unsere Sünde und Schuld bringt auch ein Gottesgericht. Es gibt eben doch eine sittliche Weltordnung und Gerechtigkeit; heute wie vor 2 000 Jahren gilt das Pauluswort: Der Zorn Gottes offenbart sich vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen.

Darum glaube auch ich, dass wir d.h. die abendländische Kulturwelt am Rande eines Abgrundes steht, weil die führenden Schichten sowohl wie die grossen Volksmassen einem ungöttlichen Wesen verfallen sind. Dabei aber kann und will ich nicht glauben, dass alle Wege und alle Türen schon verschlossen seien und dass keine Erneuerung, keine Busse und Umkehr und damit auch keine Rettung mehr möglich sei. Ich will die Hoffnung auf Hilfe und Erlösung nicht fahren lassen, sonst wäre allerdings unseren Kindern und Kindeskindern der Untergang ganz gewiss.

Allein, wenn nun trotz allem die Weltkatastrophe kommt, wenn Europa unter furchtbaren Krisen und Wissen zusammenbricht, wird dann, wie die Sekte der sogenannten ernsten Bibelforscher behauptet, an dieses Gottesgericht das Gottesreich sich anschliessen? Wird Christus auf den Trümmern und Schutthaufen unserer Städte und Dörfer seine tausendjährige Herrschaft aufrichten? Das glaube, wer mag. Solche Erwartung geht nicht nur wider alle Vernunft, sondern auch wider den klaren Wortlaut der heil. Schrift, denn die von Jesus selbst ausdrücklich gemachte Voraussetzung, dass zuvor das Evangelium allen Völkern verkündet werden müsse, ist noch lange nicht erfüllt. Dass aber Gott mit der Welt und der Menschheit seine bestimmenden Gedanken und Ziele hat, das ist auch unsere feste Ueberzeugung. Darum wird auch, selbst wenn in absehbarer Zeit die ärgsten Katastrophen und Wirren über uns hereinbrechen, die Weltgeschichte nicht stille stehen, sondern Gott wird mit neuen Menschen und neuen Völkern seine Pläne verwirklichen. So wollen wir denn weder mit den Pessimisten gänzlich verzagen, noch mit Sektierern uns überschwänglichen Hoffnungen hergeben. Wir wollen getreulich auf dem Posten unsere Pflicht tun, an den uns Gott gestellt hat, wir wollen soviel an uns liegt, das Reich Gottes d.h. das Reich des Friedens und der Gerechtigkeit bauen helfen in Familie, Staat und Gemeinde, alles übrige aber legen wir in des Höchsten Hand.

Er wird es wohl machen!

Zum Schluss wäre noch zu sagen, dass das Bild der Lebenshaltung in unserer Gemeinde sich in den letzten Jahrezehnten erstaunlich verbessert hat, die alten schlechten Lotterhütten sind verschwunden, die Leute wohnen behaglicher und schöner, wer arbeiten und sparsam haushalten will, kommt vorwärts, an Verdienstgelegenheit hier und auswärts fehlt es meistens nicht und wenn auch die Lebensmittel viel teurer sind als vor dem Krieg, so sind auch die Löhne entsprechend grösser.

Am nötigen Einkommen fehlt es daher den fleissigen Bürgern nicht. Die früher drückende Armut ist zwar nicht verschwunden - auf dem Etat der dauernd Unterstützten stehen in Wattenwil pro 1925 noch 64 Personen (28 Kinder und 36 Erwachsene) - aber eine wohlgeordnete Armenpflege sorgt für die Bedürftigen und wird dabei reichlich aus Staatsgeldern unterstützt; aus dem beiliegenden Bericht der kantonalen Direktion des Armenwesens ist ersichtlich, welche Summen im letzten Jahr dafür ausgelegt worden sind.

Auch mit dem Schulwesen ging es vorwärts. Ich hoffe darüber einen besondern Bericht hier beilegen zu können, an unseren 11 Schulklassen wirken in vier leider alten Schulhäusern 6 Lehrer und 5 Lehrerinnen, die alle deutlich der Jugend Bestes suchen und durch einen ernsten, soliden Lebenswandel viel gutes Vorbild geben. Im Jahr 1902 wurde zur bessern Ausbildung strebsamer Kinder von einsichtigen Männern eine Sekundarschule gegründet, die von Anfang an starken Zudranges sich erfreute, aber leider bis heute wegen Platzmangel nicht erweitert werden konnte, gegenwärtig werden in zwei überfüllten Klassen 72 Kinder unterrichtet, die Angliederung einer dritten Klasse würde uns in der Gemeinde gerne bewilligt, wenn wir sie nur unterbringen könnten.

Auch für die Handwerker-Mädchenfortbildungsschule und kirchl. Unterweisung fehlt es uns an geeigneten Räumen. Ein Schulhaus-Neubau wäre ein dringendes Bedürfnis, es scheitert dieser schöne Plan aber nicht sowohl an der Einsicht vieler Bürger, als an der immer misslichen Finanzlage unserer Gemeinde, die durch hohe Steuern bedrückt ist, der Ansatz für die Gemeindesteuer ist 7,5 % vom Einkommen und für die Staatssteuer 4,5 %, dazu kommt die ausserordentliche eidgenössische Kriegssteuer, die noch lange Jahre nötig ist, um die durch das Truppenaufgebot in den Jahren 1914-1918 entstandene Staatsschuld von 1 Milliarde Franken zu tilgen. Durch solche Lasten wird die Bürgerschaft nicht für grosse Schulden in der Gemeinde willig, einmal wird aber doch ein Schulhaus-Neubau an die Hand genommen werden müssen, denn die jetzigen Schulhäuser genügen nicht mehr.

Für das Volk der Gemeinde hat früher und gegenwärtig der rührige Gemeinnützige Verein Wattenwil mit Weitblick gearbeitet und manche gute Errungenschaft angeregt und verwirklicht.

Das im Jahre 1887 gegründete, anno 1891 auf dem jetzigen Platz erbaute, 1913 vergrösserte und 1925 durch ein Stöckli (Altersheim) neben dem Hauptgebäude errichtete Krankenhaus ist eine grosse Wohltat für Arme und Alte und gedieh unter dem Segen Gottes sichtlich.

So ist neben Dunklem auch Lichtes und Erfreuliches zu melden. Gott schirme weiter in Gnaden unsere liebe Gemeinde, er lasse ihr sein Licht leuchten und gebe ihr seinen Frieden!

Er ist unser Fels und unsere Burg und um seines Namens willen wolle er uns leiten und führen, er helfe uns durch seine Güte zum ewigen Leben.

Wattenwil, am 12. Juli 1925

Adolf Mezener, Pfarrer.  ❞

Quelle und weiterführende Dokumentation:

«Bilder aus der Geschichte von Wattenwil im Knopf des Kirchturms deponiert». Text verfasst von Pfarrer Adolf Mezener, 1925.


1925MezenerPortr.png

Porträt von Adolf Mezener, Pfarrer 1906 - 1937 in Wattenwil.

Quelle: Kappeler Lieselotte, Fotoalbum «Wattenwil 1900 bis 1999», 2010.

1925MezenerTaufe.jpg

Taufe in der Kirche Wattenwil 1931, Pfarrer Adolf Mezener.

Quelle: Kappeler Lieselotte, Fotoalbum «Wattenwil 1900 bis 1999», 2010.